Meine Wertung besteht einzig darin, im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken …
Im Paracelsus-Gebäude St. Moritz präsentiert die Ausstellung «Das Universum eines Gerhard Richter» Werke des bedeutenden Künstlers. Besondere Einblicke bieten die gleichzeitig ausgestellten Fotografi en seines Künstlerfreundes Manfred Leve, der Richter seit Jahrzehnten fotografi ert. Im Gespräch mit Du erläutert Leve seine fotografi sche Haltung, die ganz bewusst auf Inszenierung und Regie verzichtet.
Gespräch mit Manfred Leve
Manfred Leve, unter welchen Umständen haben Sie Gerhard Richter Mitte der 1960er-Jahre in Düsseldorf kennengelernt? Düsseldorf war schon in den 1950er- und 1960er-Jahren, nicht zuletzt
durch die Kunstakademie, ein künstlerisches Zentrum in Deutschland. Gerhard Richter gehörte zu jenen Studenten und Absolventen der Kunstakademie, die sich nicht mit einer Weiterentwicklung von Bestehendem zufriedengaben, sondern nach etwas völlig Neuem suchten. So hat sich Richter in seinem Werk besonders auch mit Fragen der Wirklichkeit befasst – etwa damit, wie weit unsere Erkenntnisfähigkeit pizza bern , Wirklichkeit wahrzunehmen, reicht.
… und welche Wirklichkeiten gibt es?
Es ist unbestritten, dass es mehr Wirklichkeit gibt, als wir wahrzunehmen imstande sind. Dazu zählten für Richter Fotos: Sie haben eine eigene Bedeutung, sind in sich abgeschlossen und haben eine eigene Wirklichkeit als Betrachtungsobjekt. Damit sind sie für Richter wirklicher als alles andere. Es ist sozusagen eine neue Wirklichkeit, die als Foto existiert und beim Fotografen allenfalls auf seine Erinnerungen verweist, aber als Foto nicht zweifeln lässt, ob es noch andere Wirklichkeiten gibt. Ein Tafelbild hat eine völlig andere Qualität und wird vom Publikum und von Kunstwissenschaftlern anders bewertet. Für mich war Richter damals der einzige bildende Künstler, der all dies thematisierte. Ich beschäftigte mich schon während meiner Schulzeit mit der Frage, was bildende Kunst, Musik und Literatur mit dem Überkommenen anfangen. Mich interessierte, ob und wie der bisherige Horizont überschritten wird und überschritten werden kann. Damals wohnte ich unweit der Kunstakademie. In deren Nähe gab es einige Kneipen, in denen auch Lehrer und Studenten der Akademie verkehrten. Dort traf man sich. In Gerhard Richter, Sigmar Polke, Blinky Palermo, Joseph Beuys und anderen fand ich Künstler, die das Überkommene überschritten und sich mit neuen Ansätzen befassten. Dabei interessierten mich die Künstler ebenso wie ihre Arbeiten, weil ich auch in der Art der Gespräche, der Argumentation die neuen Ansätze fand, nach denen ich suchte – auch im Kontext meiner fotografi schen Überlegungen.
Sie nahmen 1954, 1956 und 1958 an der Ausstellung «Jugend photographiert» im Rahmen der Photokina in Köln teil und machten erste Aufnahmen auf Vernissagen. Welches Selbstverständnis als Fotograf hatten Sie damals ?
Ich war und bin neuen Entwicklungen gegenüber sehr aufgeschlossen. Wenn die Personen, die dieses für mich Neue machten, aus meiner Sicht seriöse Menschen waren – also nicht irgendwelchen Modetrends folgten, sondern eigene Ideen hatten und diese auch zu begründen wussten –, war das für mich ein Signal, näher hinzuschauen. Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre hatte es jedwede neuere Kunst in Deutschland ausserordentlich schwer, akzeptiert zu werden. Es gab auch nur wenige Galerien in Düsseldorf und Umgebung, die dieses Neue zeigten. Zu dieser Zeit lernte ich den Galeristen Jean-Pierre Wilhelm kennen, der die berühmte Galerie 22 führte. Er ermutigte mich, meinen eingeschlagenen Weg der Fotografi e fortzusetzen. Bei Wilhelm fotografi erte ich beispielsweise 1958 die erste Aufführung von John Cages Music Walk. Es war bereits damals mein Anliegen, weder die Kunst noch den Künstler zu meinem Nutzen zu instrumentalisieren oder eine Wertung hineinzubringen. Meine Wertung besteht einzig darin, im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken. Ich habe mich selbst stets zurückgenommen, weil ich grosse Hochachtung vor den Menschen habe und Fotografi e grundsätzlich einen Einbruch in die Intimität und Aura der Fotografi erten bedeutet. Jeder Mensch hat seine Ausstrahlung oder Aura, die sich auch in seinem von ihm grundsätzlich frei gewählten und meist auch gestalteten Ambiente äussert. Ich als Fotograf interpretiere sie nicht – es ist ja nicht meine, sondern die Aura des oder der Künstler. Ich stelle mir niemanden zurecht, führe keine Regie. Wenn ein Künstler sich selbst arrangiert, interpretiert er seine Aura. Dabei wird er von mir als Fotograf nicht gestört, aber bemerkt. Ich versuche, mich unsichtbar, unauffällig und lautlos zu verhalten. Das gelingt mir am besten, wenn ich mit den Künstlern befreundet, bekannt, vertraut und
von ihnen akzeptiert bin. Bei diesen Aufnahmen verwende ich keine aufwändigen und lauten Kameras, keine weiteren Hilfsmittel und natürlich auch kein Blitzlicht oder zusätzliche Beleuchtungen. Ich drücke dann auf den Auslöser der Kamera, wenn die genannte Aura aus meiner Sicht und Kenntnis am besten sichtbar wird.
Eines Ihrer bekanntesten Fotos von Richter zeigt ihn 2003 im Kölner Museum Ludwig vor den gestaffelten Glasscheiben seiner Installation «11 Scheiben». Es scheint sein berühmtes Stilmittel der Unschärfe aufzugreifen.
Ja! Richter ist auf dem Foto zwar scharf abgebildet, aber seine Spiegelung und auch die einiger anderer Personen in den Glasscheiben nicht. Die Spiegelung ist meines Erachtens deshalb so interessant, weil er damit auch wieder auf seine Überlegungen zur Wahrnehmung der gesamten Wirklichkeit durch den Menschen verweist. Das ist im Kontext insbesondere seiner frühen Spiegel- und Fotoarbeiten zu sehen. Was ist wirklich? Was nicht? Was ist nur teilweise wirklich? Die Spiegelung auf den Scheiben ist eine weitere für den Betrachter sichtbare Teilwirklichkeit. In der Staffelung der 11 Scheiben wird auch das deutlich, und die Unschärfe verallgemeinert dies: Sie reicht über das Abgebildete hinaus und legt sich nicht fest. Auf dem Foto sieht Richter vor und in der Spiegelung jeweils anders aus, wie auch die anderen Personen. Sie scheinen sich in einer untypischen Haltung zu bewegen. Das Foto hat in gewisser Weise die Offenheit, die ich an Richters Arbeiten schätze, weil es den Blick des Betrachters nicht in eine bestimmte Richtung lenkt.
Eine Ihrer Ausstellungen trug den Titel «I don’t make photographs, I take photographs» (Jena 2004). Ist dieser Anspruch, ein Bild zu «nehmen», es quasi aus dem Augenblick herauszuheben, als Gegenposition zu verstehen?
Diese Redensart ist im amerikanischen Sprachgebrauch zu fi nden. Sie trifft auf meine Art des Fotografi erens grundsätzlich zu: So ist mein dahinterstehendes Verständnis. Eine Gegenposition ist damit nicht gemeint, sondern eine andere Position.
Wie fotografi eren Sie, um das für Ihre Konzeption perfekte Foto zu erreichen?
Ich arbeite ausschliesslich analog, mit Normalobjektiven und möglichst geräuscharmen Kameras. Weiteres Equipment benutze ich grundsätzlich nicht. Künstler und Kunst möchte ich so wiedergeben, wie es der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen entspricht. Etwa bei Aufführungen versuche ich das aufzunehmen, was die Künstler oder Darsteller auf der Bühne bezwecken und den Zuschauern vermitteln wollen. Deswegen fotografi ere ich beispielsweise nicht aus der Kulisse, liegend oder von einer Leiter aus, sondern stets aus der Perspektive des Publikums. Die Künstler oder Darsteller führen ihre Stücke ja nicht für den Feuerwehrmann oder den Inspizienten hinter der Bühne auf, und auch die Zuschauer liegen nicht auf dem Bauch oder stehen auf Leitern. Bei Aufnahmen von Proben, Gegenständen oder Materialien kann das schon mal anders sein. Bei Aufführungen, Aktionen und dergleichen habe ich auch das Publikum fotografi ert – zum Beispiel beim Festum Fluxorum Fluxus 1963 in Düsseldorf. Gerhard Richter bemerkte zu diesem Festival: Das war ein Schlüsselerlebnis für uns alle, die wir damals auf der Akademie waren.
Damals fotografi erten Sie auch Joseph Beuys. Ist Richter leichter zu fotografi eren als Beuys?
Jeder hat seine eigene Aura. <
Manfred Leve, geboren 1936 in Trier, gehört zu den wenigen Künstlerfotografen, die ihre Sujets ausschliesslich in der Gegenwartskunst fi nden. Seine Fotos von Künstlern entstehen in der Regel im Dialog mit den Dargestellten. In den 1950erund 196oer-Jahren dokumentierte Leve jene Ereignisse, die massgeblich zur Entstehung neuer Kunstformen beigetragen haben. Noch heute gelten seine Bilder der Aktionen und Performances der frühen Fluxus- und Happening-Bewegung als Massstab, wie es damals wirklich war. Seine Porträt-Serien von Künstlern in Aktion – darunter Blinky Palermo, Nam June Paik, Gerhard Richter und Sigmar Polke – zählen zu den Meisterwerken der Porträtfotografi e.
Ausstellungen
Gerhard Richter: «Ein Blick in das Universum Gerhard Richters» Manfred Leve: «Blick und Anblick, Fotografi e von Manfred Leve» Beide Ausstellungen fi nden im Rahmen des St. Moritz Art Masters vom 21. bis 30. August 2009 im Paracelsus-Gebäude statt.